(hpd) Auf der Evolutionstheorie liegt ein Schatten: Die biologische Unterteilung der Menschen in Rassen und die Darwinschen Ideen über Selektion und den Kampf ums Dasein hätten Hitler und seinen Gefolgsleuten entscheidende Stichworte geliefert. Diese und ähnliche Vorbehalte sind bis heute nicht ausgeräumt und gerade bei der politischen Linken lässt sich ein generelles Misstrauen der Biologie gegenüber beobachten. Wie berechtigt sind diese Vorbehalte? (Teil 1)
Hitlers Gespenst
Als der bedeutende Evolutionsbiologe Ernst Mayr im Mai 1954 Europa besuchte, notierte er in seinem Tagebuch: „In Deutschland – jetzt ein klerikaler Staat – ist die anti-evolutionäre Bewegung besonders stark […]. Genauso wie McCarthy Liberalismus mit Kommunismus gleichsetzt, wurde nach dem Krieg die Evolution mit einem extrem typologischen Selektionismus und die Biologie mit dem Nazi-Rassismus gleichgesetzt“ (zit. nach Junker 2004: 496).* Noch vor wenigen Jahren bemerkte James D. Watson, der zusammen mit Francis Crick im Jahr 1953 die Struktur des Erbmaterial (der DNA) aufgeklärt hatte: „Hitlers Gespenst verfolgt noch immer Genetiker auf der ganzen Welt” (Watson 2000: 217).
Tatsächlich ist der Eindruck weit verbreitet, dass die Verbrechen des NS-Regimes direkte Konsequenz der Anwendung biologischer Kategorien auf die Menschen sind. Evolutionstheorie und Genetik mögen wissenschaftlich korrekt sein, solange es um die evolutionäre Vorzeit der Menschheit und um (andere) Tiere oder Pflanzen geht. Jeder Versuch, diese Erkenntnisse auf heute lebende Menschen zu übertragen, soll indes auf biologistischen Fehlinterpretationen basieren, die politisch höchst gefährliche Folgen nach sich ziehen. In letzter Konsequenz sei Auschwitz deshalb ein „Mahnmal angewandter Biologie“ (Herbig & Hohlfeld 1990: 71) und die Objektivität habe „den Wissenschaftlern die Tür zu jeder Barbarei“ geöffnet (Müller-Hill 1984: 88).
Wie sollte man auf derart monströse und pauschale Vorwürfe reagieren? Zum einen kann und muss man darauf hinweisen, dass sie ein völlig verzerrtes Bild der historischen Tatsachen zeichnen. Aus der Wissenschaft lassen sich technische Anwendungen gewinnen, die dann für alle möglichen Zwecke verwendet werden können. Bei Völkermorden und ‚Barbareien‘ ging und geht es aber um völlig andere als wissenschaftliche Gründe. Betrachtet man die von Jared Diamond (1998: 346-87) für die Zeit von der Entdeckung Amerikas (1492) bis in die Gegenwart aufgeführten fast vierzig Fälle von Massenmorden an Völkern und Ethnien, dann wird deutlich, dass biologische oder wissenschaftliche Beweggründe keine Rolle spielten, wohl aber religiöse oder ethnische Konflikte, sowie ökonomische und machtpolitische Interessen. Zum anderen kann man nicht oft genug betonen, dass es die jahrhundertelang systematisch geschürte *christliche* Judenfeindschaft war, die den Boden für den Judenhass im Dritten Reich bereitet hat (Maccoby 1973; Czermak 1997).
Ist es also nicht viel mehr so, dass Irrationalität und Subjektivität die Tür zu ‚jeder Barbarei‘ öffnen und dass ‚Auschwitz‘ ein ‚Mahnmal angewandten Christentums‘ ist? Für beide Aussagen lassen sich in der Tat gute Argumente anführen, sie zeigen aber auch, dass einseitige und pauschale Schuldschreibungen wenig hilfreich sind, wenn es um sachliche Klärung geht. Lassen wir also die Polemik beiseite und betrachten die Frage möglichst unvoreingenommen.
Warum das Thema für Atheisten und Humanisten wichtig ist
1) Die (Darwinsche) Evolutionstheorie ist ein zentraler und unverzichtbarer Bestandteil des naturalistischen Weltbildes.
Ohne die Evolutionstheorie sind die Existenz und Zweckmäßigkeit der Organismen wissenschaftlich nicht zu erklären. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts gab es folglich eine riesige Wissenslücke, die sich mit religiösen Schöpfungsideen füllen ließ. Mit Charles Darwins Entstehung der Arten (1859) änderte sich die Situation grundlegend und das religiöse Wunder verschwand aus der Biologie. Viele Vertreter der religiösen Weltanschauung nahmen Darwin die Vertreibung des Schöpfergottes aus der belebten Natur sehr übel und waren nicht gewillt, dieses Terrain, bei dem es ja nicht zuletzt um die Menschen ging, kampflos preiszugeben. Damit aber wurde die Evolution zum vielleicht wichtigsten Streitpunkt zwischen Wissenschaft und Religion. Heute ist die Evolutionstheorie nicht nur durch eine Vielzahl von Beobachtungen bestätigt, sondern sie ist die einzige plausible natürliche Erklärung für die Existenz der Lebewesen und ihre Eigenschaften.
2) Wenn die Behauptung der NS-Ideologie zutreffen würde, dass es ohne einen erbarmungslosen Kampf ums Dasein zwischen Völkern und ‚Rassen‘ zu einer unaufhaltsamen Degeneration der Menschheit kommen muss, dann wäre dies ein fatales Ergebnis für die humanistische Weltanschauung.
Dann stünde man vor dem Dilemma, entweder die Werte des Humanismus aufrechtzuerhalten und dabei einen allmählichen, aber unaufhaltsamen geistigen und körperlichen Verfall in Kauf zu nehmen, oder sich von seinen Überzeugungen zu verabschieden. Letztlich würde dies bedeuten, dass die humanistische Weltanschauung an der Realität scheitern muss und ein schöner, aber illusionärer Traum ist.
Wie entstand der Eindruck, dass die NS-Ideologie auf der Biologie beruht?
Der offensichtliche und unmittelbare Grund ist, dass Hitler und seine Gefolgsleute dies behauptet haben. Sie präsentieren ihre Weltanschauung als auf den Erkenntnissen der Biologie und der Evolutionstheorie beruhend. Warum wählten sie diese Rechtfertigungs- und Begründungsstrategie?
Der Aufstieg der Wissenschaft im 19. Jahrhundert hatte dazu geführt, dass alle politischen Bewegungen, die auf der Höhe der Zeit sein wollten, wissenschaftliche Erkenntnisse heranzogen, um ihre politischen Forderungen zu rechtfertigen. Dies war (und ist) weitgehend unabhängig von der politischen Ausrichtung und gilt ebenso für den (wissenschaftlichen) Sozialismus wie für liberale, konservative oder faschistische Parteien. Eine Ausnahme waren hier nur dezidiert christliche Gruppierungen, die sich weiterhin auf die nun aber von großen Teilen der Bevölkerung als obsolet empfundenen religiösen Ideen beriefen.
Dieses Phänomen lässt sich noch heute beobachten, wenn beispielsweise die Überlegenheit der Marktwirtschaft damit begründet wird, dass der (evolutionäre) Fortschritt in der Natur auf der Konkurrenz der Organismen beruht. Umgekehrt lassen sich aber auch Kooperation und Moral aus der Biologie ableiten. So funktioniert unser eigener Körper nur, weil viele Milliarden ursprünglich und potentiell unabhängiger Einzelorganismen (die Zellen) kooperieren.
Fallstricke
Bevor ich mich konkreten Beispielen biologischer Argumentationen in der NS-Ideologie zuwende, ist es wichtig, auf einige Schwierigkeiten aufmerksam zu machen:
1) Die Vielfalt der möglichen Überlebens- und Fortpflanzungsstrategien in der Natur hat zur Folge, dass sich für (fast) jedes noch so extreme und scheinbar abwegige Verhalten ein biologisches Vorbild finden lässt. Auch Mord, Vergewaltigung und Vernichtungskriege wurden nicht von Menschen erfunden. Letzteres beispielsweise wurde bei Schimpansen beschrieben und kommt bei zahlreichen Ameisenarten sogar regelmäßig vor.
2) Die NS-Ideologie war kein monolithisches Gebilde und zur Einschätzung evolutionsbiologischer Tatsachen und Prinzipien gab es abweichende Meinungen. Da im Zweifel Hitlers Mein Kampf (1925-27) als ausschlaggebender Text galt, beziehe ich mich im Folgenden auf die dort dargelegten Argumente und Aussagen.
3) Der verständliche Wunsch, sich von den Verbrechen des NS-Regimes zu distanzieren, verleitet dazu, alles, was diesem (wirklich oder scheinbar) zugeordnet werden kann, unbesehen abzulehnen. Damit aber überlässt man den NS-Ideologen die Entscheidung über richtig und falsch und macht sich zu ihrer Geisel. Nur weil Hitler Vegetarier war, muss der Vegetarismus nicht automatisch schlecht sein. Und so ist zu erwarten, dass die Interpretation biologischer Phänomene durch Hitler und seine Gefolgsleute teilweise fehlerhaft und einseitig ist, dass sich aber auch korrekte Aussagen finden lassen.
4) Einige historische Aussagen werden heute fälschlicherweise dem NS-Regime zugeordnet, obwohl es sich um Überzeugungen handelt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem breiten politischen Spektrum vertreten wurden. Dies spielt vor allem im Zusammenhang mit der Eugenik eine große Rolle.
Was hat Hitler von Darwin gelernt?
1) Medizinische Eugenik
„Eine nur sechshundertjährige Verhinderung der Zeugungsfähigkeit und Zeugungsmöglichkeit seitens körperlich Degenerierter und geistig Erkrankter würde die Menschheit nicht nur von einem unermeßlichen Unglück befreien, sondern zu einer Gesundung beitragen, die heute kaum faßbar scheint“ (Hitler 1925-27: 448).
Ein erster Schritt in dieser Richtung sollte das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 sein. Auf seiner Grundlage wurden zwischen 1934 und 1939 schätzungsweise 200000 bis 400000 Sterilisationen durchgeführt, ein großer Teil zwangsweise. Das Gesetz selbst stammte aus der Weimarer Zeit und sollte Sterilisationen auf freiwilliger Basis ermöglichen. Nach 1945 gab es deshalb kontroverse Diskussionen, ob es sich um ein NS-Unrechtsgesetz handelt.
Bei der Verabschiedung des Gesetzes konnten sich die NS-Politiker auf von vielen Medizinern und Biologen geäußerte Forderungen berufen. Begründet wurden diese mit der Befürchtung, dass die modernen Lebensbedingungen der Zivilisation die Evolution der Menschen in eine unerwünschte Richtung drängen: Durch die Fortschritte der Medizin überleben auch gesundheitlich schwächere Individuen, die soziale Absicherung entkoppelt die Kinderzahl von den Fähigkeiten der Eltern und die in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zu Millionen geopferten jungen Männer waren oft die mutigsten und engagiertesten, während die Drückeberger und Hasenfüße überlebten und der nächsten Generation ihre schlechten Eigenschaften vererbten. Der drohenden Degeneration wollte man mit der neuen Wissenschaft der ‘Eugenik’ (gute Abstammung) entgegenwirken (Galton 1904). Darwin selbst war den Vorstellungen seines Vetters Francis Galton nicht abgeneigt, glaubte aber, dass die praktische Durchführung auf schwer überwindbare Schwierigkeiten stoßen musste.
Die konkreten Ziele der Eugeniker waren je nach politischem Standpunkt und historischer Situation starken Schwankungen unterworfen. Es lassen sich aber einige Gemeinsamkeiten feststellen; meist ging es um Gesundheit, Intelligenz, positives Sozialverhalten und manchmal auch um Schönheit. Kaum mehr bekannt ist, dass eugenische Vorstellungen international und im ganzen politischen Spektrum verbreitet waren. So gehörten der Sozialdemokrat Alfred Grotjahn, der Jesuitenpater Hermann Muckermann und der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld zu den führenden Eugenikern der Weimarer Republik. Dies gilt auch für andere Länder. So vertraten beispielsweise der amerikanische Genetiker Herman J. Muller und der britische Evolutionstheoretiker J. B. S. Haldane, die aus ihrer kommunistischen Überzeugung keinen Hehl machten, ihr Leben lang eugenische Positionen.